Interview I Juni 2016

Nathalie, Ihr Weg ist faszinierend: einerseits Beruf, Familie, eher typisch für eine westliche Frau, andererseits ein Pfad der Erleuchtung… eher untypisch für eine westliche Frau! Wie ist es Ihnen gelungen, die alltäglichen Aufgaben und die spirituelle Praxis miteinander zu verbinden? Wie konnten Sie einem so tiefgehenden Erleuchtungspfad folgen und sich dabei trotzdem den Herausforderungen des Alltags stellen?

Diese beiden Aspekte nicht zu trennen ist essentiell, denn die Wirklichkeit ist nur eine. Es gibt keine zwei Wirklichkeiten, die spirituelle Wirklichkeit auf der einen Seite und auf der anderen die alltägliche. Ich würde eher sagen, es gibt das Wirkliche und meinen Traum. Die Tatsache, dass ich in der alltäglichen Aktivität mit all ihren Formen eingebunden bleiben muss, ist ein gutes Mittel, um die Phantasien von Verwirklichungen zu vermeiden. Die Herausforderungen des Alltags zeigen mir wie ein unerbittlicher Meister augenblicklich meine Stufe der Verwirklichung. Wenn mir die geringste Situation ein Problem bereitet, ist es ein Zeichen dafür, dass ich nicht frei bin, und ich danke dem Wirklichen, mir die Gelegenheit zu geben, das zu sehen. Die wesentliche Praxis besteht darin, sich sehr ehrlich bei diesem Treiben zuzuschauen, in jeder Situation, die das Leben bietet. Sehen, wann ich gegen das Wirkliche kämpfe und denke, dass es anders sein müsste. Die Auswirkung dieses Widerstands auf physischer und psychischer Ebene spüren. Dann die Unbeschwertheit entdecken, wenn ich mich nicht wehre, sondern mit den Ereignissen gehe. Die Müdigkeit kommt selten von der Aktivität selbst, sondern von meinem Widerstand.

Was bedeutet Verwirklichung für Sie? Wie kann man sich das vorstellen, ohne die Erfahrung gemacht zu haben?

Es ist wichtig, jegliche Projektionen auf dieses für alle möglichen Einbildungen so geeignete Thema zu vermeiden. Das Beste ist, im „Ich weiss nicht“ zu bleiben. Diese Erfahrung ist kein Objekt, sie entzieht sich vollkommen dem objektiven Rahmen. Das Richtigste wäre zu sagen, es ist Sein, ohne jemanden, der diese unaussprechliche Qualität der Präsenz für sich in Anspruch nähme. Es ist eine reine Präsenz – ein weites, grenzenloses Ich – ein lebendiger Zustand der Ausdehnung, der sich in keinerlei Rahmen einsperren lässt.

Kann man Erleuchtung wollen? Kommt sie durch Gnade oder stetige Praxis?

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man etwas Besonderes wird, bzw. etwas Besonderes erhält. Sprechen wir von Verwirklichung oder Erwachen, dann ist es wohl verstanden das Erwachen für das, was bereits da ist: die Verwirklichung unserer wahren Natur, seit jeher eins mit dem Absoluten. Hart zu arbeiten, um etwas zu finden, das ist der Plan einer Person. Die Person, sowie all ihr Begehren, etwas zu finden, muss verschwinden, um ihre Natur der reinen Glückseligkeit leben zu können. Das Wahre ruft uns zu sich, ohne Unterlass; es ist wichtig, herauszufinden, wie man sich von diesem Ruf ergreifen lässt. Die Bereitschaft ist da, wenn ich den Situationen, die das Leben schenkt, nicht widerstehe und wenn ich mich in einem Raum der Präsenz sein lassen kann, ausserhalb des Geborgenheit bietenden Vertrauten. Meine Fähigkeit, mich von allen besonderen Erwartungen leer zu machen, wird den nötigen Raum für die Explosion der Gnade schaffen. Sie ist da, überall am Werk, aber ich kann sie weder sehen noch erleben, solange ich mich dem engen Rahmen meines Denkens zuordne. Ich muss für etwas Nonverbales und so viel Weiteres offen sein, als all das, was ich mir vorstellen kann.

Wer sind Ihre Meister und diejenigen, die Sie inspiriert oder Ihnen den Weg gezeigt haben?

Mein wichtigster Meister ist das Wirkliche. Sobald ich mich von seiner Wahrheit entferne, verschwindet das Gefühl der Fülle, und die Unruhe beginnt. Einige bemerkenswerte Menschen konnten mir die richtige Perspektive zeigen und mir kostbare Yogas übertragen, damit ich der Wahrheit des Körpers und des Geistes unter ihren vielfältigen Aspekten begegne, von den gröbsten zu den subtilsten. Diese Yogas lassen sich auf alle Situationen des alltäglichen und emotionalen Lebens umsetzen und haben aus meinem Leben eine riesige Praxis gemacht, die sich jeden Tag weiter vertieft. Ich habe nicht die Vorstellung, angekommen zu sein. Ich weiss, dass ich mich auf einer Reise ohne Ende befinde. Das Herz ist ein bodenloser Abgrund, und es ist immer möglich, noch ein bisschen mehr in seiner Essenz zu sterben. Meine Inspirationsquelle ist heute der Raum des Herzens, der wortlos, ohne Bild und Form in einer immer radikaleren Klarheit lehrt.

Was bedeutet Frausein für Sie?

Das hat keine besondere Bedeutung für mich. Ich spüre, dass ich bin, ohne die Notwendigkeit, einem Geschlecht anzugehören. Manchmal wird eine gewisse Eigenschaft wach, die als weiblich charakterisiert werden kann, aber das ist eine Färbung des Augenblicks. Es gibt keine innere Bewegung, um sich diese Eigenschaft anzueignen. Eine Sekunde später aktualisiert sich eine mehr männlich aussehende Eigenschaft. Wer bin ich? Gleichzeitig Frau und Gesamtheit. Ich muss meine Existenz nicht mehr durch eine Färbung spüren. Ich spüre ganz einfach mein Sein, jenseits aller Benennung. Diese blosse Präsenz ist so spürbarbar, in ihrer Substanz so voll, dass sie alles Bedürfnis zunichtemacht, sich auf eine Eigenschaft zu begrenzen.

Gibt es zwei Nathalies? Die Unterweisende und die Alltagsfrau?

Es gibt unendlich viele Nathalies und eine einzige Präsenz, innerhalb derer all die Nathalies verschmelzen. Das ist das Paradox eines jeden Menschen. Das scheint dem Verstand widersprüchlich und unvereinbar, aber in der konkreten Erfahrung sind es diese beiden Aspekte, gleichzeitig innerlich und äusserlich, ohne einen ausschliessen zu können. Ich habe festgestellt, dass es natürlich und luftig ist, sich diesem Raum der umfassenden Präsenz zuzuordnen, der alle Tätigkeiten aufnehmen kann, absolut vollständig und ohne von der Tätigkeit selbst bewegt zu sein. Ich bin eine und vielfältig zugleich. Darin liegt die ganze Schönheit und die unergründliche Verrücktheit dieses Lebens.

Wie teilen Sie Ihre Erfahrung mit Ihrer Tochter? Laden Sie sie zum Meditieren ein? Wie meinen Sie, sieht sie ihre Mutter?

Ich versuche zum Beispiel ihr mitzugeben, dass es nicht nötig ist, sich in einer Identität einzuschliessen, um zu existieren. Ich ermutige sie, alles in einer ständigen Entdecker-Haltung ohne Voreingenommenheit, ohne Urteil zu beobachten. Ich rege von klein auf ihre Empfindung für das Staunen an, indem ich die Zeit nehme, mit ihr alle Aspekte des Lebendigen zu betrachten, dabei vermeide ich, ihr mein Wissen aufzudrängen. Ich ermutige sie, wahrhaftig sich selbst zu sein mit ihrem wirklichen Potential und dieses für das zu achten, was es ist, ohne Über- oder Unterschätzung. Vor allem lasse ich ihr Raum, ihre eigene Erfahrung zu machen. Und egal was geschieht, ich zeige ihr, dass das eine perfekte Gelegenheit ist, sich zu kennen und an Freiheit zu gewinnen. Sie betrachtet mich als ihre Mutter, wenn sie es braucht, meine Tochter zu sein, sie besitzt aber auch die Fähigkeit, in einer Beziehung zu sein, wo Tochter und Mutter verschwinden. Also, es ist eine reine Freude zusammen zu sein und jede Situation des Lebens zu erforschen, von den komplexesten bis zu den einfachsten. Und sie ist in diesen Momenten mindestens ebenso meine Meisterin, wie ich es sein kann. Ich versuche soweit ich kann, alle Fixierung zu umgehen, jede zwischen uns feststehende Rolle, das ist eine Kunst jeden Augenblicks.

Sie unterweisen die nicht-duale shivaitische Tradition des Kaschmir. Wie definieren Sie das Besondere an Ihrer Weitergabe?

Wenn es auch stimmt, dass eine Resonanz vorhanden ist, kann man nicht sagen, dass ich die shivaitische Tradition als solche unterweise. Meine Beziehung zu dieser ist im Wesentlichen intuitiv. Ihr ganz eigener Zugang zu den Sinnen, den Emotionen, zur Schönheit und zum Staunen hat daraus einen Weg des natürlichen Seins für die Künstlerin, die ich bin gemacht. Seit vielen Jahren inspiriert sie mein Leben und meine Unterweisungen bis zu dem Punkt, wo sie nicht mehr wirklich von ihnen zu trennen ist. Ich gebe sie in der Weise, wie ich sie lebe weiter, organisch und nicht intellektuell. Die tantrische Lehre wird gar nicht betont, ich gehe ohne Unterlass auf das konkrete Experimentieren zurück. Meine Rolle besteht darin, diese intuitive Eigenschaft bei den Suchern zu erwecken, um nach und nach die Gewohnheit zu verringern, gemäss Überzeugungen und Informationen aus zweiter Hand zu leben. Wissen Sie, ich betrachte mich vor allem als einen Menschen, der die Wahrheit seiner Essenz wiedergefunden hat und über die Schönheit und Genauigkeit des Wirklichen staunt. Meine Unterweisung bietet schliesslich nichts anderes als eine Rückkehr zum Wahren in uns an, untrennbar mit der Gesamtheit verbunden – eine Rückkehr zur Tiefe und zum Reichtum des Wirklichen.

Was können Sie den suchenden Menschen in Ihren Retreats weitergeben?

Ich mache ihnen Lust, sich der Realität ihrer Reaktionen, Emotionen, und Empfindungen in ihrem derzeitigen Zustand zu stellen. Von Werkzeugen ausgehend, die man im täglichen Leben einsetzen kann, das sind einfache, aber detaillierte Erforschungen des Körpers, der Bewegung und der Empfindung. So stellen sie fest, dass Anspannung und Unruhe auf natürliche Weise nachlassen, wenn keine Absicht mehr besteht, das zu verwandeln, was ist. Sie machen die Erfahrung einer weiten Präsenz, die die Dinge vielmehr umfasst, als dass sie sie verwirft. Die Bewegung, die sie dazu treibt, im Äusseren zu suchen kehrt sich um, und ein Gefühl von Vertrauen wächst. Die Reife, nichts anderes mehr zu ersehnen als das, was das Leben Sekunde für Sekunde bietet, entwickelt sich. Die Bedingungen sind erfüllt, damit die Erkenntnis des Herzens geschieht. Ich versuche, sie mit der grossen Stille in Berührung zu bringen, die vor der Entstehung oder Nicht-Entstehung der Gedanken da ist. Die Stille, die die beiden Zustände des Verstandes umfasst und sie vereint. So entdeckt dieser durch das direkte Experimentieren, dass die Stille ihre Natur ist und nicht das Resultat einer Bemühung, aber einer tiefen Entspannung, Akzeptanz. Wenn sie nicht mehr in einem Zustand sind, gegen das Wirkliche zu kämpfen, prallt diese wahre Stille auf sie, denn sie die Quelle von allem.

Auf Ihrem letzten Retreat in Rastenberg haben Sie uns eingeladen, dem Leben ohne Unterlass zuzuhören. Wie lässt sich das Zuhören mit dem persönlichen Gestaltungswillen vereinbaren?

Der Wille ist eine Spannung, eine Art Aggression gegen das Lebendige. Je offener ich für ein weites Zuhören bin, ohne weitere Absicht, als das zu entdecken, was ist, um so mehr entdecke ich, dass ich mein Leben nicht zu gestalten brauche. Es ist immer an die Wahrheit des Moments angepasst. Um das zu entdecken, muss das Bedürfnis, dem eigenen Wissen entsprechend einzugreifen, leer werden. In einem nicht selektiven Zuhören habe ich zu einer umfassenden Intelligenz Zugang, die nicht mehr auf irgendeiner Ideologie beruht. Die durch diese Intelligenz getragene Handlung ist vollkommen an die Umgebung und meine Möglichkeiten angepasst. Es besteht kein Graben mehr zwischen dem, was ich will und dem, was ist. Die Spannung und die Frustration, die dem Ehrgeiz, mein Leben gemäss meinen Kriterien zum Erfolg bringen zu müssen anhaften, lösen sich auf. Ich wohne glücklich der stets überraschenden Entfaltung eines nicht projizierten Lebens bei. Ich entdecke den einzigartigen Geschmack der Freiheit zu sein, in aller Vollständigkeit inmitten des grossen Spiels der Wirklichkeit.
 
Nathalie, Sie haben uns gesagt, wir müssen die Dinge unbegründet machen, nur um der Schönheit der Geste willen. Können Sie uns mehr zu dieser Unbegründetheit sagen?

Ich handle für das Handeln selbst. Ich ehre das Leben durch meine totale Präsenz im Tun, ohne ein Ergebnis zu planen. Ich habe keine andere Erwartung als das, was der Moment mir bietet. Um Leichtheit und Harmonie in der Handlung zu finden, ist es einfacher, nicht zwei zu sein. Wenn nichts als tätige Präsenz bleibt, ist ein Gefühl der Einheit und Genauigkeit da, das Körper und Geist sehr beruhigt. Die Handlung löst sich augenblicklich auf, sie hinterlässt keine Rückstände. Die Tatsache, zu tun, ohne ein Ergebnis zu erwarten, führt zu einer grossen Entspannung und bringt den Sinn für das Spielerische in unser Leben zurück. Wir sind für alle Optionen offen und es ist immer eine Überraschung. Das Empfinden von Niederlage oder Erfolg gibt es nicht mehr.

Nathalie Delay im Gespräch mit Roswitha Sirninger // Juni 2016
Übersetzung: Veronika Sellier